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Jedem realen Topf seinen virtuellen Deckel? Virtuelles Re-Enactment als Erklärungsmöglichkeit für ungewöhnliche Spieler-Spiel-Passungen bei Computerspielabhängigen

Paula Bleckmann, Judith Eckert

Volltext: PDF

Abstract


Zusammenfassung

Warum sollte ein Mann, der eine Diktatur erlebt und bekämpft hat, virtuell den alles bestimmenden Herrscher spielen, warum ein Mann, dessen Leben von schwierigen Neuanfängen geprägt ist, im Computerspiel stündlich wieder ganz „bei null anfangen“, warum eine junge Frau, die als Au-pair Überstunden macht, zusätzlich acht Stunden täglich virtuell Hausarbeit, Hauseinrichtung und Familiengründung „spielen“? In medizinisch-psychologischen Erklärungsansätzen für Computerspielabhängigkeit wird das hohe Abhängigkeitsrisiko bei bestimmten Spielgenres durch überindividuelle neurophysiologische Vorgänge im Gehirn erklärt. Wir haben dagegen aus insgesamt 22 biographischen, teilnarrativen Interviews mit ehemaligen Computerspielabhängigen bewusst drei individuelle, ungewöhnliche Passungen zwischen Computerspiel und Spielerbiographie ausgewählt (s.o.), für die wir zunächst ausführliche Analyseergebnisse darstellen. Dabei konnten wir eine Einordnung in drei Hauptmotive des Spielverhaltens rekonstruieren: erstens die versuchte Kompensation realweltlicher Mängel durch ein Computerspiel („Vitamin“), zweitens die Ablenkung und Verdrängung von realweltlichen Problemen durch als aufregend und fesselnd erlebte Computerspiele („Betäubungsmittel“) und drittens, zunächst überraschender, eine hier im Fokus stehende, schwerer zu erklärende und erstmals beschriebene Funktion: das wiederholte Nachspielen biographischer Problemkonstellationen („virtuelles Re-Enactment“), wie es sich in den eingangs angesprochenen Fällen zeigt. Gerade die biographische Perspektive ermöglicht dabei die Abgrenzung zwischen langfristigem sowie realweltlichem „Gelingen“, was auch von den Interviewten selbst rückblickend verneint wird, und dem in der Tradition der „Game Studies“ beschriebenen positiven In-Game-Erleben, also dem kurzfristigen und virtuellen „Funktionieren“.


Literaturhinweise